Aufgabe 23
1 2 3 4 5 6 7

 


"Niemand nennt mich verrückt!", brüllt sie und plötzlich hält sie eine Waffe in der Hand, die sie auf mich richtet. Ich komme nicht einmal dazu, den Versuch zu starten sie zu beruhigen.
Ein Schuss!
 

Alles Weitere geschieht wie in Zeitlupe. Es stimmt, wenn man dem Tod ins Auge blickt, dann läuft das gesamte Leben noch einmal vor dem inneren Auge ab. Schade, dass mein Leben so früh enden muss.
 

Plötzlich bemerke ich aus dem Augenwinkel, wie etwas Weißes sich vor mich wirft. Dann nehme ich wie aus weiter Ferne einen Schrei war, einen furchtbaren Schrei…Joannas Schrei! Ihr lebloser Körper fällt direkt vor mir auf den Boden und ihr weißes Kleid beginnt sich blutrot zu tränken. Kraftlos blicke ich meine Mutter an, die immer noch die Waffe auf mich gerichtet hält. Und dann ein zweiter Schuss!
 

Ich schließe die Augen und warte auf den Schmerz, doch auch diesmal kommt er nicht. Als ich sie öffne sehe ich meine Mutter. Ihre Augen sind weit aufgerissen und ihr Gesicht ist krampfhaft verzerrt. "Was!?", ist das letzte Wort, das sie röchelt, bevor sie vornüber zusammenbricht und ungebremst auf den Boden prallt.
 

Hinter ihr erkenn ich meinen Vater mit einer Pistole in der Hand. "Es tut mir leid", flüstert er. Dann hält er sich die Waffe an die Schläfe und drückt ab. Ich werde niemals erfahren ob er mit diesen Worten meine Mutter oder mich meinte.
 

Dann geben meine Knie nach und ich sinke kraftlos auf den Teppich. Ohne darüber nachzudenken, beginne ich Joannas Haar zu streicheln. Und da bricht alles aus mir heraus. Die ganze Wut, der Schmerz. Ich lasse alles heraus und weine. Und immer wieder streichle ich das Haar meiner kleinen Tochter.
 

Plötzlich greift jemand nach meiner Hand und ich zucke erschrocken zusammen. Es ist Joannas Hand, die meine fest umschlossen hält und dann öffnet sie ihre schönen grauen Augen. "Dad?", flüstert sie benommen. Es ist unvorstellbar. Joanna lebt. Ich bin einfach nur überglücklich und schmiege meine Tochter an mich. In diesem Moment denke ich nicht daran, dass ich ihr mit dieser Umarmung wehtun könnte.
 

Daran erinnert sie mich selbst. Sie löst sich aus meiner Umarmung und richtet sich dann mühevoll auf. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, aber sie steht und drückt ihre Hände auf die Wunde an ihrem Bauch. Dann erst sieht sie, dass meine Eltern tot am Boden liegen. Ewa ist bei ihnen. Doch beide haben keinen Puls mehr. Für sie kommt jede Rettung zu spät und noch ein Wunder wird es nicht geben. Ewa zieht sich in eine Ecke des Raumes zurück und starrt die leblosen Körper unserer Eltern an und schüttelt immer wieder weinend den Kopf. Das hat sie nicht gewollt. Das nicht!
 

Es ist Joanna, die in dieser Situation einen kühlen Kopf bewahrt und plötzlich die Führung übernimmt. "Wir müssen ihre Leichen hier wegschaffen. Die Polizei würde viel zu viele Fragen stellen". Die kühle in ihrer Stimme lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Dann reist sie ihr Kleid in der Mitte ein und betrachtet ihre Wunde. Da beginne auch ich wieder klar zu denken. "Ich rufe den Notarzt." Doch ein entschiedenes "Nein!" von Joanna hält mich zurück. "Hol einfach den Verbandskasten aus dem Wagen. Es ist nur ein Streifschuss. Beim Militär hast du doch sicher gelernt, wie man so etwas behandelt. Niemand darf hiervon je etwas erfahren." Ich nicke stumm und mache mich auf dem Weg zum Auto.
 

Dann wendet Joanna sich an meine Schwester, die immer noch weinend in der Ecke hockt. "Ewa, ich weiß, wie hart das für dich sein muss, aber du musst mir helfen. Hol mir bitte ein neues Kleid. Etwas einfaches weißes. Du würdest mir damit einen riesigen Gefallen bereiten." Ewa nickt benommen und macht sich dann ebenfalls auf den Weg. Ich schätze, sie ist einfach nur froh aus diesem Raum verschwinden zu können.
 

Als nächstes greift Joanna zu ihrem Handy und wählt eine Nummer, die sie von ihrer Chefin, nein, ihrer Großmutter, Donna Justyna, erhalten hat. "Wir haben hier zwei Gäste, die nicht mehr nach Hause können. Beeilt euch. Niemand darf merken, dass sie hier waren." Der Mann am anderen Ende der Leitung hat genau verstanden.
 

Sie legt auf und geht langsam auf Darek zu, der schweigend, wie zu Beginn dieses verhängnisvollen Familientreffens, unverändert auf seinem Stuhl sitzt. "Paps, ich werde heute noch heiraten." Darek nickt ihr zu. "Das habe ich mir schon gedacht, als du Ewa losgeschickt hast. Komm ich helfe dir, deine Frisur wieder in Ordnung zu bringen."
 

Sie lächelt ihm dankbar zu und beide gehen hinüber zur Frisierkommode und wiederholen die Prozedur, wie sie es schon vor einer Stunde getan haben. Sie lassen sich auch nicht stören, als zwei Männer den Raum betreten und die Leichen meiner Eltern aus dem Zimmer schaffen.
 

 

 


Als die Musik der Orgel ertönt, schreitet Joanna den Gang der Kirche entlang, mit mir an ihrer Seite. Ihr strahlendes Lächeln lässt nicht erahnen, welches Drama sich noch vor einigen Minuten ereignet hat. Nur der ganz aufmerksame Beobachter hätte vielleicht an den Blicken von Ewa, Darek und mir gemerkt, dass nicht alles so schön ist, wie es scheint.
 

Schließlich geben Joanna und Tobias sich das Ja-Wort. Und auch ich muss gestehen, dass es ein wunderbarer Moment ist, selbst wenn ich nun diesen verfluchten Tobias zum Schwiegersohn habe. Ich hoffe, Gott verzeiht mir diesen Gedanken in der Kirche.
 

Die Feier danach fällt etwas kurz aus. Darek, Ewa und ich lassen uns kaum blicken und auch Joanna und Tobias verschwinden relativ früh. Ich bin gespannt, wie sie ihm die Wunde an ihrem Bauch erklärt. Doch erfahren werde ich es wahrscheinlich nie.
 

Aber immerhin amüsiert sich der Rest der Gäste köstlich. Auch ohne die Brauteltern und das Brautpaar selbst haben alle ihren Spaß.
 

 

1 2 3 4 5 6 7

kor. 20.02.2011