Aufgabe 23
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Nachdem die Gäste sich verabschiedet haben, geht Darek hoch auf den Balkon. Ich folge ihm und eine Zeitlang stehen wir gedankenverloren am Geländer und beobachten Orion, der sich zu später Stunde noch im Pool austobt. Nachdem ich mich versichert habe, dass nur Darek mich hören kann, erzähle ich ihm, was mir auf dem Herzen liegt. "Ich mag diesen Tobias nicht. Ich mochte ihn noch nie und ich bin überhaupt nicht glücklich, dass dieser Typ Joanna heiraten will. Meinem Vater geht es da genauso, das habe ich genau gespürt. Und auch du warst nicht hellauf begeistert, Darek, sonst hättest du nicht so lange gezögert, den beiden zu gratulieren."
 

Darek nickt langsam mit dem Kopf. "Du hast Recht. Er hat etwas an sich, dass mir Sorgen bereitet. Aber wir werden nichts daran ändern können, was sie für ihn fühlt. Joanna ist reif genug um ihre Entscheidungen selbst zu treffen. Sie weiß, was sie tut. Und wenn wir uns bei der Hochzeit quer stellen, dann wird sie sich von uns abwenden, nicht von ihm." Sein Augen werden plötzlich ganz traurig und leise fügt er hinzu: "Ich will nicht noch eine Tochter verlieren."
 

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Stattdessen küsse ich ihn liebevoll und mit jedem Atemzug verfliegt seine Traurigkeit ein wenig mehr. "Lass uns ins Schlafzimmer verschwinden", flüstere ich ihm lüstern ins Ohr. "Bei dem Trubel um Joannas Hochzeit sollten wir unsere eigenen ehelichen Pflichten nicht vergessen." Sein lustvoller Blick ist die einzige Antwort die ich brauche und nur wenige Augenblicke später schmiegen sich unsere nackten Körper aneinander.
 

 

 


Solch schöne Nächte sollen aber eine Seltenheit für uns werden. Dareks Schmerzen werden von Tag zu Tag schlimmer und als die Chemotherapie beginnt, sieht man ihm die Krankheit erstmals deutlich an.
 

Er muss zwar nicht im Krankenhaus bleiben, aber manchmal wünschte ich, er müsste es doch. Ich fühle mich so hilflos, wenn er mal wieder im Badezimmer ist und sich die Seele aus dem Leib kotzt. In solch einem Moment weiß ich einfach nicht, wie ich ihm helfen kann.
 

Mitten in der Nacht werde ich von einem Wimmern geweckt. Als ich verschlafen meine Augen öffne, beginne ich langsam zu begreifen, dass das Geräusch aus dem Bad kommt. Beim Aufrichten berühre ich mit meiner Hand Dareks Bettseite und auf einmal wird mir bewusst, was eigentlich los ist. Sein ganzes Kissen ist voller Haare.
 

Als ich die Tür zum Bad öffne, kann ich gerade noch sehen, wie er sich mit entsetztem Blick in das Haar greift. In seiner Hand bleibt ein Büschel seiner braunen Haare zurück. "Oh Gott, oh mein Gott", schluchzt er und reißt sich dabei immer mehr Haare aus.
 

Ich nehme ihn behutsam in meinen Arm. "Es ist in Ordnung, Darek, es ist in Ordnung", versuche ich ihn zu beruhigen und Darek vergräbt weinend sein Gesicht in meiner Schulter. Ich versuche ihm Trost zu spenden, so gut ich kann, doch eigentlich bräuchte ich jetzt selbst jemanden, der mich tröstet.
 

 

 


Als Joanna von einer mehrtägigen Flugreise wiederkommt und das Wohnzimmer betritt, weiten sich geschockt ihre Augen. Darek sitzt dort mit vollkommen kahlem Kopf und blickt sie traurig lächelnd an. Sie versucht etwas zu sagen, doch sie bringt kein Wort über die Lippen.
 

Stattdessen füllen sich ihre Augen mit Tränen und sie läuft beschämt die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Darek schluckt schwer, liest dann aber in dem Buch weiter, als ob nichts passiert wäre.
 

Diesmal ist es Orion, der sich verstohlen in Joannas Zimmer schleicht, um seine große Schwester zu trösten. Er hat längst mitbekommen, dass mit seinem Papa etwas nicht stimmt. Er ist sich nur noch nicht über das Ausmaß der Krankheit bewusst. Er findet seine verheulte Schwester zusammengekauert in einer Ecke des Zimmers vor.
 

Er setzt sich ihr gegenüber auf den Boden und überreicht ihr seinen Teddy. "Mr. Browny will, dass du ihm eine Geschichte erzählst", versucht er sie aufzuheitern. "Und ich kann sie mir nebenbei ja auch anhören." Damit entlockt er Joanna wieder ein Lächeln und sie beginnt tatsächlich zu erzählen. In diesem Moment wird ihr bewusst, wie viel schwerer es Orion treffen wird, wenn sein Vater...sein Vater nicht mehr bei ihm ist. Und dann wird er jemanden brauchen: Seine Mutter!
 

 

 


Es ist ein nettes kleines Haus, das in der Kastanienallee in einem Randbezirk von Santa Regina steht. Nicht ganz das, was sie erwartet hat. Joanna betrachtet es eingehend, bevor sie den Garten betritt. Die zwei spielenden Mädchen lassen sich von ihr nicht stören. Joanna will sie schon ansprechen, als eine schöne, blonde Frau hinter dem Haus hervorkommt. Joanna erkennt sie sofort. Sie hat sich in den letzten sechs Jahren kaum verändert.
 

Langsam geht Joanna auf sie zu. "Hallo, Lucy", begrüßt sie sie. An ihrem verwirrten Blick kann sie erkennen, das Lucy sie nicht wiedererkennt. "Ich bin es, Joanna". Plötzlich weiten sich Lucys Augen erschrocken. "Was...was machst du denn hier?", stammelt sie entsetzt. "Wie hast du mich hier gefunden?"
 

"Das war gar nicht so einfach", beginnt Joanna zu erzählen, die nicht gemerkt hat, dass hinter Lucys Reaktion mehr steckt, als bloße Überraschung. "Ein Freund hat mir geholfen. Es war schlau von dir, nur die Schreibweise deines Namens ein wenig zu verändern." Doch Lucy hört ihr gar nicht richtig zu. "Kinder, geht sofort ins Haus. Beeilt euch", ruft sie den beiden hektisch zu und die beiden gehorchen sogar, wenn auch widerwillig.
 

"Lucy, was ist los mit dir?", fragt Joanna verwirrt. In Lucy steigt die Panik auf. "Du hast ja gar keine Ahnung. Oh Gott, wenn sie erfährt, dass du hier bist, wer weiß, was sie dann macht." Sie bekommt sichtlich Schwierigkeiten mit dem Atmen. "Wovon redest du, Lucy? Wer ist 'sie'?" Doch Lucy antwortet ihr nicht.
 

"Du musst sofort von hier verschwinden. Du hättest nie hier auftauchen dürfen. Geh jetzt. Bitte! Vielleicht hat sie ja noch nichts mitgekriegt." Lucy blickt Joanna flehend an. Fast will sie nachgeben, doch dann erinnert sie sich, warum sie eigentlich hier ist.
 

"Lucy, du hast noch einen Sohn. Orion braucht dich. Stiehl dich nicht aus seinem Leben." Joanna kann den Schmerz in Lucys Augen deutlich sehen. Sie sieht, wie Lucy einen inneren Kampf ausfechtet. "Ich kann nicht", schüttelt sie dann endgültig mit dem Kopf. "Du musst jetzt gehen."
 

 

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kor. 14.01.2011