Aufgabe 19 1/2
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7 Stunden später und 547§ ärmer sehe ich die Skyline Warschaus aus dem Flugzeugfenster. Der Palast der Wissenschaft und Kultur ragt stolz in den Himmel empor und wird von weiteren Wolkenkratzern die in den Himmel ragen gesäumt. Es ist ein schöner Anblick.


Es ist bereits dunkel, als ich zu dem Plattenbau komme, in dem meine Großeltern ihre kleine Wohnung haben. Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen, aber es hat sich nichts verändert. Immer noch dasselbe heruntergekommene Gebäude, das aber einen seltsamen Charme versprüht.


Die Haustür ist offen, aber anders habe ich es auch nicht erwartet. Das Treppenhaus ist so wie ich es in Erinnerung habe. Es riecht nach Feuchtigkeit und die Wände sind beschmiert und an vielen Stellen blättert die Ölfarbe ab. Ich steige in den Fahrstuhl und fahre in den zehnten Stock. Als ich oben ankomme, muss ich aber feststellen, dass meine Großeltern doch nicht hier, sondern ein Stockwerk tiefer wohnen.


Als ich an der Tür klopfe, höre ich, wie sich jemand von innen nährt und durch den Türspion schaut. Und plötzlich wird die Tür aufgerissen und meine Oma kommt zum Vorschein. Sofort nimmt sie mich in den Arm und küsst mich mehrmals mitten ins Gesicht. "Mutter Gottes", ruft sie überglücklich aus und fängt vor Freude an zu weinen, "meine kleine Oxana ist endlich da!"


Nachdem sie mich aus ihrer stürmischen Umarmung befreit hat, wischt Oma sich die Tränen aus dem Gesicht. "Piotr, wach auf!", schreit sie ins Wohnzimmer hinein. "Oxana ist gekommen." Ich lächele sie freundlich an und gehe dann ins Wohnzimmer, wo Opa noch ein wenig verschlafen im Sessel sitz, und setze mich neben ihn. Und wenige Sekunden später taucht Oma mit einem Teller mit Keksen auf.


Und da wird auch Opa endlich richtig wach. "Mädchen, lass dich anschauen! Du bist ja eine richtige Frau geworden." Er lacht und nimmt mich in den Arm. "Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Darek hat gesagt, du würdest kommen. Doch er wusste auch nicht genau wann. Aber jetzt bist du ja hier."


Und in diesem Moment spüre ich, dass ich mich hier wohl fühle, bei diesen beiden Menschen, die mich kaum kennen, deren Liebe ich aber deutlich wahrnehme. "Ich darf doch bei euch bleiben?", frage ich vorsichtig und schaue zuerst meinen Opa und dann meine Oma an. Und beide lächeln mich an. "Was für eine Frage, Oxanka", antwortet meine Oma. "Du kannst so lange bei uns bleiben, wie du willst. Was sollen wir zwei alten Menschen denn alleine in dieser großen Wohnung?" Ja, hier bin ich zu Hause.

 

 


Auch wenn die Reise bis nach Warschau mehr als schmerzlich war, so hat sie doch etwas Gutes: Ich habe meine Mutter gefunden. Zumindest hatte ich die Möglichkeit sie kennenzulernen und wenn ich mir dieses Foto ansehe, dann kommt es mir vor, als ob sie genau wüsste, wer ich bin.

Erstveröffentlichung am 06. März 2005

 

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kor. 24.01.2011